Übernachtung im Eng-Land

Blick hinter die Hotelzimmertür

Endlich in einem brillanten Veloland, dass die Fahne des Radrennsports praktisch gleich hoch hält, wie jene des Fussballs. Bella Italia – mal abgesehen von Aosta (Details später in diesem Text). Unsere 3. Etappe, eigentlich mehr ein leichtes Überführungs-Teilstück über den grossen Hündli-Pass, ist kaum erwähnenswert. Fahrer im Ziel! Basta. Technisch ohne Probleme – die kommen erst so richtig in der Grande Nation.

Zimmer mit viel Auslauf.

Meine Logistik-Chefin Sibyl findet sogar Zeit, einem ihrer grossen Hobbys zu frönen: Sie sammelt bei jedem Halt emsig wie eine Biene Steine. Sie lesen richtig: Steine! Wie wenn der geduldige Honda (das Direktions-Begleitfahrzeug) nicht schon genug Gewicht mitschleppen müsste. Zwischengelagert hat sie ihre Funde in den vielen Türfächern. Der absolut ideale Aufbewahrungsort bei Talfahrten um die 120 km/h. Jetzt klappern eben Materialkiste, Koch-Container, Ersatzräder, der Hometrainer und die Steine um die Wette. Von ihrem Velo auf dem Dach ganz zu schweigen.

 

Aber reden wir von etwas wirklich Erfreulichem. Von etwas total Positivem: Vom Platz zum Leben und Wohnen! Man muss wissen, dass der Maerz-Clan in einer Villa residiert – mitten in einem herrlichen Park. Uralter Baumbestand. Die absolute Krone ist ein amerikanischer Mammut-Riese, der seit 113 Jahren seine Wurzeln in den berühmten Täli-Boden schlägt. Selbstverständlich der höchste Baum von Ennenda – darunter macht’s ein Maerz niemals! Wieviele Zimmer und Bäder die Villa hat? Kleine Bedenkpause meines Teams! Von Zimmern spricht man nicht – man hat sie eben. Wären Sibyl und André taubstumm geboren, es würde Stunden dauern, bis sie sich in diesem gigantischen Haus finden würden.

 

In der Tapir-Racing-Tour ist das anders. Ganz anders. Vor allem in Aosta. Das Doppelbett-Appartement meines Siegfahrers misst genau 10,6 Quadratmeter (Bild). Neben meinen tapferen Trophy-Genossen wohnen da noch der Villiger (das Rennrad – Andrés geheime Geliebte), Sibyls gewaltiges Mountain-Bike, die komplette elektronische Ausrüstung mit einem gigantischen Kabel-Salat, Kleidersäcke, Schuhsäcke, Verpflegungssäcke, die Logistik-Kiste, Putzkiste und hundert andere zum Radrennsport nicht unbedingt notwendige Utensilien. Schliesslich ist das die maerzsche Privat-Zone, wo selbst meine Befehlsgewalt aufhört. Und das will etwas heissen.

 

Warum ich das alles schreibe? Weil das wirklich Schöne und Bewundernswürdige jetzt erst kommt – und man gewisse Informationen braucht, um sich diese Situation auch richtig vorstellen zu können.

 

Meine Freunde (im wahrsten Sinne des Wortes) klagen nicht. Sie haben richtig gelesen: Sie jammern nicht. Fröhlich sind sie, necken sich, haben den Plausch – geniessen sozusagen die grausame Enge. 13 Mal innerhalb 5 Minuten holt sich mein Siegfahrer an Schultern, Kopf, Rücken und Zehen bei seinem ruhelosen Herumirren in der Enge der Zelle kleinere Verletzungen. Und lacht! Kaum zu glauben, der Mann lacht. Blutige Amateure zwar in Sachen Rennsport, aber sehr lernfähig. Weil wohnen in Hotelzimmern eben auch ein wichtiger Faktor im Profi-Velo-Geschäft ist umso erstaunlicher. Sie finden sich damit ab. Sie organisieren. Sie lernen das unstete Leben aus dem Koffer kennen – und kapieren blitzschnell. Chapeau! Und ein «das geht nicht» gibt’s beim Tapir sowieso nicht. Dann erst recht. Toll. Ich bin begeistert.

 

Noch etwas in eigener Sache und der Wahrheit zuliebe: In meiner ganzen Laufbahn als früherer Sportjournalist (ca. 18'000 Übernachtungen) habe ich mit einer einzigen Ausnahme noch nie einen so miesen Schlag angetroffen wie jener meines guten Andrés in Aosta. Das war 1967 in Weisswasser, einer Kohlen-Stadt in der ehemaligen DDR. Die verdreckte, verwanzte Bude im Arbeiter- und Bauern-Staat war dermassen haarsträubend, dass ich in der weitläufigen Hotel-Halle meine müden Glieder ausgestreckt habe. Gut bewacht von zwei bewaffneten Volkspolizisten und einem griesgrämigen Herrn vom Politbüro im obligaten Ledermantel.

 

Aber das braucht mein Improvisations-Genie und Siegfahrer ja nicht unbedingt zu wissen. Und Sibyl erst recht nicht. Sonst fangen sie doch noch kurz vor unserer Abreise in mein heiss geliebtes Land Frankreich an zu jammern... Ich lasse sie im Glauben, dass die Aosta-Unterkunft zwar etwas eng ist, aber durchaus die Profi-Norm erfüllt. Schliesslich bin ich vom Herrn Maerz nicht nur als Directeur sportif angestellt. Auch als Spezialist für heikle und subtile Situationen werde ich fürstlich honoriert! Und im Pflichtenheft eines sportlichen Leiters ist klar vermerkt, dass Notlügen je nach Situation mehr oder weniger tolerierbar sind...