Amateure fast am Limit!

Die reine Wahrheit – von Walo P. Hottiger

Es sei bereits nach der zweiten Etappe gesagt – weil es an den Anfang unserer Tapir-Racing-Tour gehört. Deutsch und deutlich – ohne jeden Groll, vergnügt, fröhlich – wenn auch mit einem leicht zynischen Unterton: Ich lebe, fahre, esse, schlafe und rede mit blutigen Amateuren (gemeint ist mein tapferer Siegfahrer André, im weiteren Tapir genannt – und Sibyl meine sogenannte rechte Hand, weil ich extremer Linkshänder bin). Blutige Amateure.

So arbeiten Profis.

Wertvolle Menschen zwar, gute Menschen, gescheite Menschen. Aber leider mit null Ahnung vom harten Brot des Radrennsports. Das überschattet mein momentanes Dasein doch in gewisser Weise. Da ist von höllischem Wind die Rede, von leichter Übelkeit, von Kinn auf dem Lenker anschlagen. Mensch Tapir, was machen wir denn da? Hier ist nicht der Urnerboden oder der Klöntalersee angesagt. Da wird nicht geklönt (was Du übrigens an Deinen Mitmenschen auf den Tod nicht ausstehen kannst)! Wir haben Dein geliebtes Glarnertäli hinter uns gelassen und fahren in die weite Welt. Punktum!

 

Wir fahren ans Meer. Wenigstens soweit die Räder rollen (sinngemäss nach dem berühmten Nachkriegs-Roman «Soweit die Füsse tragen»).

 

Der «Fall» Sibyl ist weit komplizierter. Erstens ist sie eine Frau (typisch Hottiger würde meine Frau sagen) und zweitens Lehrerin. Das sagt dem geneigten Leser viel – wenn nicht alles. Dass sie noch nie in ihrem Leben einen Profi-Radrennfahrer auch nur von weitem gesehen hat, macht die ganze Sache auch nicht unbedingt einfacher.

 

Jeden zweiten Tag sitzen wir also im noblen Honda 2,3 Liter rund 6 Stunden Schulter an Schulter. Genug Stoff, aus dem Bücher geschrieben werden können. Ein Beispiel gefällig: Vom Start in Ennenda (das ist eine Villa-Gemeinde im Kanton Glarus) weg verunstaltet sie ihre zarten Schultern mit einer Riesentasche, ähnlich den berühmten Pferde-Futtersäcken früherer Gotthard-Kutscher. Sibyl, einen Frau mit wunderschönen, dunklen Augen, trägt diesen Sack wie eine Waffe. Vermutlich legt sie ihn nur zum Schlafen ab. Aber soweit – um das zu kontrollieren – gehen meine Kompetenzen nicht. Und bösartig, wie der Tapir nun einmal sein kann, verät er mir um kein Geld der Welt, ob dieser rätselhafte Sack zu nächtlicher Stunde zwischen den Maerzen schlummert...

 

Natürlich bin ich flexibel, könnte mich an dieses überdimensionale Riesending gewöhnen. Aber das haarsträubende ist die Tatsache, dass meine Presse-Chefin, Quartiermeisterin und Logistik-Chefin in ihrem Umhängsel die elementarsten Unterlagen der velorenntechnischen Direktions-Begleitmannschaft nicht findet. Simmsalabimm – einmal verstaut, und weg ist alles, verschwunden in den unergründlichen Falten des Sack-Monsters. Es kommt wie es kommen muss. Pflichtbewusst – wie Sibyl nun einmal ist – kriecht sie während einer vollen Renn-Stunden im riesigen Honda-Innenraum (Sieben-Plätzer) herum, wortlos, zäh, mit leicht geröteten Wangen, auf der Suche nach den «lebenswichtigen» Listen.

 

Wie gesagt, das ist nur eines von vielen Beispielen. Aber vielleicht versteht man mich jetzt doch ein bisschen besser, wenn ich von Amateuren spreche.

 

Auf der andern Seite ist und bleibt Sibyl Lehrerin. Auch im Stress. Auch mit geröteten Wangen.

 

Noch ein Beispiel: Während ihrer beinahe militärischen Such-Listen-Übung nach der Furka-Passhöhe versuche ich die etwas «gespannte» Atmosphäre mit dem zugegeben banalen Hinweis zu entschärfen, dass der Rhonegletscher der grösste der Schweiz sei. Nichts von nicken, nichts von «ah so». Spontan und ohne einen Moment der Besinnung höre ich aus der hintersten Ecken, zwischen Ersatzrädern, Werkzeugkiste und Mineralwasser-Depot ihr präzis formuliertes: «Nein, der Grösste ist der Aletschgletscher.» Kaum zu fassen!

 

Dass ich danach wirklich dringend eine Gauloises rauchen muss, versteht vermutlich auch der grösste Raucher-Gegner. Wenigsten ansatzmässig.

 

Amateure, meine beiden Tour-Begleiter, velotechnisch gesehen echte Banausen. Aber liebenswerte, intelligente Menschen, mein verbissener, toleranter, kämpferischer, Gott sei Dank lernfähiger (nur in Sachen Velorennsport natürlich), todesmutiger Siegfahrer – und Taschen-Sibyl, die Frau mit dem riesengrossen Herzen für alle Geplagten und Geknechteten dieser Welt.

 

Trotzdem gebe ich schon nach vier Tagen zu Eides statt, dass ich um nichts in der Welt diese ersten 96 Stunden mit meinen wunderbaren «Greenhörnern» missen möchte. So wahr mir Gott helfe...