Martigny: Unterm Rad

Notizen aus dem Begleitfahrzeug

Es liegt nicht an der Tiefe meiner Handtasche, die – das muss hier gesagt sein – in diesen Tagen um einiges mehr ausgebeult ist, als an anderen. Das meiste, das ich mit mir rumtrage, steckt normalerweise nicht da drin. Selbst der Hottiger fragt sich seit drei Tagen, was ich denn so alles mit mir rumschleppe. Wie von einer Frau nicht anders erwartet, antworte ich auf die mir gestellte Frage stets mit einem ausweichenden, unverständlichen Gemurmel.

Wenn’s aber darum geht, die Rekordzeiten des Siegfahrers schriftlich festzuhalten, bin ich die einzige Nichtjournalistin im Bunde der Journalisten, die Schreibzeug und Papier zücken kann und so die bahnbrechenden Ziffern und Zeichen wie, 5h 22’ oder Ø Geschw. 19.5 km/h und max. Geschw. 57 km/h schwarz auf weiss für die Ewigkeit festhalten kann. Ausserdem notiere ich, dass wir 2 bis 3 Kleiderbügel aus dem Hotel mitlaufen lassen sollen (Dank dem Hotelier – der liest das nämlich) und Sirup einkaufen müssen.

 

Kurz vor dem Start ist meine Lippenpomade, die sich im untersten Teil der Tasche befindet, sehr gefragt. André kommt so in den Genuss einer Vitamin E Lip care SPF 15 Pflege. Auch der Schnauz hat davon etwas abbekommen, wie ich beim Abschiedsküssen feststellen kann.

 

Vor Brig hole ich mein Natel das erste Mal aus dem Täschchen, um Andi über Kahn und Ronaldo auf dem Laufenden zu halten. Vor Martigny dann, gebe ich ihm das 2:0 durch.

 

Jeder ist für seinen Bereich zuständig. Pflichtbewusst habe ich vor der Abfahrt eine Hotelliste ausgedruckt und sie sorgsam zweimal gefaltet in meine Tasche gesteckt, damit ich sie stets zur Hand habe. Und heute also, überholen wir auf der Höhe von Sion den nicht mehr sehr motiviert wirkenden, mit dem Wind kämpfenden Spitzenfahrer und schreien ihm aus dem Autofenster zu, dass wir schon mal vorausfahren ins Hotel, wo ich mit einem Handtuch auf ihn warte. Der Directeur sportif hole ihn dann an der Stadtgrenze von Martigny ab, um ihm den Weg in die Handtücher zu weisen...

 

Ich will also die zweimal sorgfältig gefaltete Hotelliste aus meiner Tasche ziehen. Doch da ist sie nicht. Ich verfluche Andi. Er hat sie mir gestern aus der Hand gerissen, um einen Blick darauf zu werfen. Seit da habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich greife mir also seinen Rucksack um sie darin zu finden – oder wenigstens einen Voucher oder sonst was, wo die Hoteladresse darauf steht. Nichts. Ich finde nichts über dieses verdammte Hotel. Wenigstens kann ich mich an den Namen erinnern.

 

Wir kommen gleichzeitig in Martigny an, wie die Fussballfans aus den Häusern in die Autos strömen, wo sich die Burschen hinter das Steuer und die Stereoanlage klemmen. Die spärlich bekleideten Mädchen hängen sich aus den Fenstern und den Dachluken der laut beschallten Karren und schwingen gelbgrüne Fahnen. Die Strassen sind hoffnungslos verstopft. Der Directeur ist absolut nicht nervös. Er möge den Brasilianern ja den Sieg gönnen, aber dass er jetzt im Stau stehe... Die Kioskfrau weist uns in ein Fünfsternhotel, das uns auch nicht schlecht gefallen würde, aber da haben wir nicht reserviert. Zum Glück haben die Brasilianer schon gewonnen, so dass sich die südamerikanische Belegschaft vom Fernsehen wegeisen und im Computer nach dem Motel du Sport suchen kann. Zurück durch die hupende Fröhlichkeit ans andere Ende der Stadt. Der Directeur ist immer noch die Ruhe in Person. Er könne absolut nicht verstehen, wie man derart die Strassen verstopfen könne, er habe schliesslich keine Zeit zu warten.

 

Im Motel angekommen gehe ich an die Rezeption und will den Meldezettel ausfüllen. Der Directeur sportif mit einem Ruhepuls von 180 stürmt ebenfalls die Rezeption und verlangt die Zimmernummer seines Siegfahrers zu wissen. Ich lasse den Meldezettel und gehe mit ihm zum Auto. Zwei, drei geübte Handgriffe: schwarzes Directeur-Köfferchen raus, Frischewäschesporttasche raus, Directeur rein, Schlüssel rein, Fuss aufs Gaspedal. Das folgende Geräusch erinnert stark an leere Petflaschen, die zerdrückt werden. Der Directeur begeht keine Fahrerflucht. Er steigt aus und fragt entsetzt, ob es den Zigaretten nichts gemacht habe. Ein kurzer Blick auf die Bescherung genügt, um ihn zu beruhigen: Die Gauloises sind heil geblieben. Nachdem der Honda weggefahren ist, dem Siegfahrer entgegen, hole ich in einer Ruhe die Digitalkamera aus meiner Tasche. Ich denke nur noch, zum Glück sind die drei Brillen, das Natelladegerät, der Feldstecher, der Kompass und das Sackmesser heil geblieben.

 

Frisch geduscht, laut den Wind verfluchend fragt mich der jetzt ziemlich breitbeinig gehende Mann, ob ich zufällig einen Taschenspiegel bei mir hätte. Täschchen sei dank, so brauche ich keinen Blick darauf zu werfen, dorthin, wo man ohne Spiegel nicht hinschauen kann.

Nachher.